
Am Morgen vor der Wahl
Ich ziehe mir meinen Mantel über, die Ärmel gleiten schwer über meine Arme. Mein Blick bleibt an der Spiegelung im Fensterglas hängen. Ich sehe so aus, wie ich mich fühle. Traurig. Draußen geht langsam die Sonne auf, der Himmel ist tiefblau. Der Schmerz hängt sich in mir fest. Die Welt taumelt. Ich taumle mit.
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Eben noch habe ich zwei Videos gesehen. Das eine: Ein Mann, der klug spricht, humorvoll, nachdenklich. Ein Mann, der über Politik spricht, als sei sie etwas, das sich formen, das sich gestalten lässt. Ich spüre Wärme, eine Sehnsucht nach einer Welt, die mit Vernunft regiert wird, mit der Fähigkeit, über den eigenen Tellerrand hinauszudenken, über sich selbst hinauszuwachsen. Habeck. Ein Mensch, der zweifelt, der reflektiert, der sich in seinem Handeln sieht und nicht nur in seiner Macht. Viele der Grünen sind mir als Menschen derart nah, ich kann sie greifen, ich kann sie begreifen. Ich sehe, dass sie sich hinterfragen, ich verstehe ihre Empathie, ihren Wunsch, die Welt wirklich zu verbessern.
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Dann das andere Video. Ein Mann, der brüllt. Ein Gesicht voller Zorn. Eine Stimme, die sich an der eigenen Wut verschluckt. Ein Heben des Kinns, ein Schnauben, ein Befeuern des Unmuts, der in der Luft liegt wie ein drückendes Gewitter. "Links ist vorbei!" brüllt er. Die Worte knallen durch den Raum. Spinner, nennt er sie. Nennt er mich. Ich kenne diese Sorte Mann. Seit Jahrzehnten begegne ich ihnen in meinem Beruf, immer wieder. Männer, die sich für großartig halten und wenig können. Die sich als Gipfel der Vernunft begreifen und doch nie eine Frage an sich selbst stellen. Die auf die Welt herabsehen, als gehöre sie ihnen, als könnten sie mit ihr tun, was sie wollen. Männer, die sich an ihrer eigenen Lautstärke berauschen. Männer, die die Welt verbrennen.
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Ich weine. Ich weine nicht, weil ich überrascht bin. Ich weine, weil ich wusste, dass es so kommen würde. Heute ist Wahltag. Ich weiß, dass das Rumpelstilzchen gewinnen wird. Ich weiß, dass die Wut triumphiert. Und dass das in den nächsten Jahren wohl nicht weniger werden wird. Ich weiß, dass es ab heute Abend Häme geben wird, über uns, die wir glauben, dass es anders sein könnte auf dieser Welt, dass wir doch miteinander leben könnten. Hass gerade auf die, die nicht nur an sich selbst denken. Es macht mich so müde.
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Aber ich stehe auf. Öffne die Tür. Es ist still in der Straße, aber ich weiß, dass es überall da draußen gärt, dass die Welt brodelt. Ich setze einen Fuß vor den anderen. Ich gehe wählen, auch wenn ich längst weiß, wie die Geschichte ausgeht. Ich gehe weiter, und hoffe, dass ich meine Hoffnung wieder finde, dass sich doch noch etwas ändern lässt.
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Morgen. Morgen werde ich darüber nachdenken, wie man die Welt trotzdem noch besser machen kann.